Michael Braungart im Interview darüber, wie Cradle to Cradle unsere Mode und die Textilindustrie verändern wird.


Herr Braungart, erklären Sie kurz, was Cradle to Cradle ist und was es für die Mode bedeutet?

Michael Braungart: Cradle to Cradle ist ein Designkonzept, bei dem alle Produkte so gestaltet werden, dass ihre Materialien nach Gebrauch biologisch oder technologisch nutzbar werden. Es gibt keinen Abfall mehr. Statt von der Wiege zur Bahre also von der Wiege zur Wiege – eben Cradle to Cradle. Es geht darum, nützlich zu sein, nicht weniger schädlich, denn für Letzteres sind wir viel zu viele Menschen auf der Welt.

Warum ist das Cradle to Cradle- Prinzip für die Textilindustrie so wichtig?

Weil sie weltweit die wichtigste Industrie ist. Im Textilbereich arbeiten etwa 15mal mehr Menschen als in der Automobilindustrie. Aber auch wegen ihrer Umweltrelevanz. Die Hälfte aller Abwasserprobleme der Industrie stammt aus der Textilproduktion, ein Drittel aller Chemikalien wird im Textilbereich eingesetzt. Es geht nicht mehr um Nachhaltigkeit im klassischen Sinne, sondern um Innovation, um Qualität, um Schönheit. Ein Produkt, das zu Abfall wird oder Hautausschlag verursacht, ist einfach ein schlechtes Produkt. 

Beim Global Organic Textile Standard (GOTS) gibt es Positivlisten, welche Chemikalien erlaubt sind. Gibt es die für Cradle to Cradle auch?

Ja. Es ist wichtig, positiv zu definieren, was drin ist. Denn selbst radikalste Ansätze wie Greenpeace Detox erstellen Listen von Dingen, die nicht sein sollen. Die Textilindustrie hat die Greenpeace Detox-Vereinbarung unterschrieben. Sie nimmt dann die 200 Chemikalien von der Liste aus der Produktion heraus und dafür kommen 200 andere rein. Das ist ein Hase-und-Igel-Spiel. Deshalb müssen wir, wie bei einem guten Kochrezept, die Zutaten positiv definieren. Das ist vor allem für den Arbeitsschutz wichtig. Denn die Leute in Asien arbeiten ja meistens ohne irgendwelche Gesundheitsschutzmaßnahmen und das Abwasser wird in der Regel ungereinigt aus den Fabriken in die Flüsse geleitet. In der Mode findet man noch sehr wenig Cradle to Cradle-Produkte.

Die Philosophie und Vision leuchten ein. Warum wird also das Cradle to Cradle-Konzept nicht breiter umgesetzt?

Die Cradle to Cradle-Produkte von Trigema sind 2012, die von Puma 2013 auf den Markt gekommen. Es dauert natürlich eine ganze Weile, bis sie überhaupt wieder zurückkommen. Man muss bei Cradle to Cradle das ganze System Mode anschauen. Die gesamte Lieferkette zu überblicken, ist ja schon komplex. Cradle to Cradle schaut aber über die Produktion und die Nutzung hinaus. Man muss Systeme finden, wie Materialien so markiert werden, dass sie später sortenrein in den Kreislauf zurückkommen können. Und man muss es gegenüber dem Kunden kommunizieren.

»Qualität, Ästhetik und Innovation kommen beim Kunden besser an als Konsumverzicht«

Bei der Puma InCycle-Kollektion hat man den Eindruck, es war eine einmalige Sache. Oder täuscht das?

Es gibt bisher vier Kollektionen von Puma. Die letzte hat 148 Produkte quer durch das Sortiment. Puma stellt die Liste der Zutaten der InCycle-Kollektion der Allgemeinheit zur Verfügung. Designer haben dazu Zugang und können daraus eigene Kollektionen zusammenstellen. Bei Puma zeigt sich aber auch, dass die Kommunikation neue Formen braucht. Wenn ich sage, diese Textilien sind für Hautkontakt geeignet, was ist dann mit den anderen? Es geht eben nicht um grüne Produkte, sondern um Qualität.

Wenn Cradle to Cradle so komplex ist, ist es dann nur für große Unternehmen geeignet?

Ganz wichtig ist, dass die Leute gar nicht anstreben sollten, perfekt zu sein. Obwohl unser Institut das Cradle to Cradle- System entwickelt hat, unterstütze ich Trittbrettfahrer. Wenn Leute sagen, »Based on Cradle to Cradle«, »Cradle to Cradle in mind« oder »Inspired by Cradle to Cradle« reicht mir das. Etwa wenn sie bei jedem Kleidungsstück einfach drei, vier, fünf Cradle to Cradle-Elemente reinpacken. Das können Farben sein, ein Reißverschluss, Knöpfe. Hauptsache sie sind nicht schädlich. Auf die Nichtschädlichkeit kann man positiv aufbauen. Dann kann man sagen, »Wir brauchen 15 Jahre, und je mehr du davon kaufst, desto schneller schaffe ich das«. Gerade für junge Labels ist das eine Riesenchance.

Cradle to Cradle-Anhänger brauchen also noch etwas Geduld, bis sich das Prinzip durchgesetzt hat?

Ja. Bis vor sechs Jahren gab es kein Schwarz, das man auf der Haut tragen konnte, ohne davon krank zu werden. Das ist verrückt. Wir haben mit Triumph das erste Schwarz für Hautkontakt gemacht. Dass die Triumph-Leute nicht sagen können, diese BHs sind für Hautkontakt, das kann ich ja verstehen. Aber sie haben ihre gesamte Produktion umgestellt. Das ist toll. Und zwar ohne dass sie Cradle to Cradle drauf. geschrieben haben. Ich glaube, Cradle to Cradle wird sich auf jeden Fall durchsetzen. Wenn man einmal verstanden hat, dass weniger schlecht nicht gut ist, dann will man mit weniger schlecht nicht weitermachen. Wir haben 18 Jahre gebraucht, um ein Leder zu bekommen, das wirklich perfekt in biologische Kreisläufe zurückgehen kann. Das ist Olivenleder, der Gerbstoff wird aus Olivenblättern gewonnen. BMW verwendet es in seinen Elektroautos. Olivenleder hat auch eine bakterienstabilisierende Funktion, damit ist es extrem hautverträglich und gut geeignet für Schuhe.

Tragen wir alle in Zukunft Kleidung und Schuhe, die nach Cradle to Cradle-Prinzipien hergestellt wird, oder wie sehen ihre Zukunftsvisionen aus?

Ich glaube, dass sich die ganze Modeindustrie bis 2030 Cradle to Cradle-gemäß ändern kann. Weil in vielen Designschulen Cradle to Cradle gelehrt wird. Weil das Prinzip die Menschen schätzt und feiert, und dafür ist Mode natürlich der ideale Bereich. Statt Langlebigkeit hätte ich gern befristete Nutzungszeiten. Auf Schuhen könnte zum Beispiel »Best before 2018« stehen. Man könnte auch Modeversicherungen machen und die Kleider nach einer definierten Nutzungszeit, von beispielsweise drei Jahren, wieder zurückgeben. Und dann könnte man sie aus verschiedenen Komponenten neu zusammensetzen. Und ich würde völlig andere Fertigungstechniken vorschlagen. Es ist viel interessanter, Kleider zu kleben als zusammenzunähen. Klebstoff e lassen sich reversibel machen, dann kann man die Materialien wieder einsetzen und umarbeiten. Das wäre »Design for Reincarnation«, und die nächste Nutzung hätte man gleich miteingeplant.

Interview gekürzt. Originalversion aus meinem Modebuch Fashion Made Fair, Prestel 2016

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